Heimat- und Geschichtsverein

Berga/Elster

Am 09. August 2019 jährte sich zum 100. Mal der Todestag von Kommerzienrat Ernst Engländer. Anlaß, an ihn und seine Verdienste um unsere Stadt zu erinnern.

Geboren wurde er am 20. November 1848 in Barmen als 4. von 6 Kindern einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Er war 18 jahre alt, als sein Vater 1867 verstarb. War seine Ausbildung da schon abgeschlossen? Wir wissen nicht, wo er seine ersten Berufsjahre verbracht hat. Aber offensichtlich war er - wie seine Vorfahren auch - überzeugt von der Wertigkeit der Seidenproduktion und sah hier seinen zukünftigen Weg vor sich.
1878 lebte er in St. Goarshausen und kam in das Pfarrhaus nach Diethard (Taunus), um sich taufen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit lernte er auch die Pfarrerstochter Therese Halder kennen, die er drei Jahre später, 1881, kurz nach deren 18. Geburtstag ehelichte. Mit seinen jungen Frau zog er zunächst nach Rheydt (Mönchengladbach), wo er sich an einer Seidenweberei beteiligte, und dann nach Krefeld, um hier 1884 eine eigene Seidenwarenfabrik zu gründen. In Krefeld wurden dem Ehepaar 4 Kinder geboren - 2 Töchter und 2 Söhne.
Die Seidenweberei Engländer in Krefeld war sehr erfolgreich, obwohl die Konkurrenz in der Region beachtlich war. 1899 bekam Ernst Engländer Nachricht vom dem Konkurs der im fernen Thüringen, in Berga, ansässigen Wollweberei Éiserhardt & Schröder. Er erwarb diese Fabrik mit dem Ziel, hier eine Seidenweberei zu etablieren.DSC01560
Heinrich Brossen, einem jungen (23jährigen) Angestellten der Fa. Engländer in Krefeld und Fachmann des Seidenwebens, fiel die Aufgabe zu, die in Berga erworbene Fabrik von grober Woll- auf feine Seidenproduktion umzustellen. Es wurden 40 Seidenwebmaschinen aufgestellt und es begann die Produktion von modischen Naturseidengeweben. Die Fabrik hieß fortan im Volksmund nur noch „die Seide“.
E Englaender1902, nur 3 Jahre nach dem Start, wurde bereits eine zweite Halle angemietet und weitere 40 Webstühle aufgestellt  (es war dies das sog. „Werk II“ gegenüber dem Bahnhof gelegen und 1944 enteignet für die Unterbringung des Lagers „Schwalbe V“ mit KZ-Häftlingen). Und es sprach sich im Großherzogtum herum, was in Berga so erfolgreich geschah. Im Sommer d.J. machte der Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar auf seiner Reise nach Teichwolframsdorf in Berga Station, um für 1 Stunde die Seidenweberei zu besuchen und sich über die Produktion und Produkte zu informieren. Dieser „Staatsbesuch“ wurde zum Anlaß genommen, um die gesamte Belegschaft am Nachmittag zu Kaffe und Kuchen einzuladen und am Abend einen großen Ball im Schützenhaus abzuhalten. Das allgemeine Fazit in der nachfolgenden Pressemitteilung: „Beste Harmonie zwischen Chef, Beamten und Arbeitern“.
Ernst Engländer war als Unternehmer in erster Linie auf Gewinn bedacht. Aber er verband seine kaufmännischen Fähigkeiten auch mit seinem Bedürfnis nach Wohltätigkeit. Er verstand das Prinzip GEBEN und NEHMEN.
So wurde bereits 1902 eine Werksküche eingerichtet, Weihnachtsgratifikation und Betriebskindergarten folgten. 1909 begann der Bau einer Arbeiterwohnsiedlung am Glasig. Es entstanden betriebsnahe Wohnungen für die Arbeiter, die aus dem gesamten Umland kamen und teilweise weite Wege auf sich nahmen, um hier einer sicheren Arbeit nachgehen zu können.
1910 wurde Ernst Engländer zum Kommerzienrat ernannt.
1912 verfügte der Betrieb über 430 Webstühle und 500 Beschäftigte.
Die Firma Ernst Engländer errichtete 1917 eine Stiftung über 50.000 Mark, um den aus dem 1. Weltkrieg heimkehrenden Betriebsangehörigen und ihren Familien den Übergang in die Friedenswirtschaft finanziell zu erleichtern und ihre Sorgen zu lindern.DSC01521
Der Kommerzienrat hat es verstanden, auch seine beiden Söhne für das Unternehmen zu gewinnen. Sie hatten sich bereits erfolgreich in der Wirtschaft etabliert, als er am 09. August 1919 in Bad Elster, wo er zur Kur weilte, im Alter von 70 Jahren plötzlich verstarb. Unsere Stadt und die Firma betrauerten einen großartigen Menschen, Geschäftsmann und Gönner der Region.

Ein Nachsatz:
Die Erinnerung an diesen besonderen Menschen ist in unserem Ort seit langem verblasst. Die Söhne haben die Firma gut durch schwere Zeiten gebracht, aber in der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR war der Denkansatz ein anderer. Ab 1951 war das Werk offiziell des Volkes Eigentum. Die Produktion ging erfolgreich weiter - bis 1990 die große Veränderung kam. Seither haben sich verschiedene Eigentümer um eine neue Nutzung bemüht.DSC01528 Bisher ohne jeden Erfolg. Die Shedhalle der alten Seidenweberei steht unter Denkmalschutz und wurde weitgehend saniert. Das Verwaltungsgebäude ist auf Rohbauzustand zurückgesetzt und wartet nun auf die zündende Idee für eine neue Zukunft.
Die Nachfahren der Familie Engländer sind über die ganze Welt verstreut. Einige von ihnen wissen sicher gar nichts mehr von ihrem Urahn. Andere zeigen aber doch Interesse.
So konnten wir am 10. August 2019 im Beisein von acht Familienmitgliedern am Grab des Kommerzienrates eine kleine Gedenkfeier anläßlich seines 100. Todestages abhalten. Beim anschließenden gemeinsamen Kaffeetrinken im Gemeinderaum des Pfarrhauses hatten wir Gelegenheit zum Gedanken-, Informations- und Bilderaustausch. Das Besondere dabei - auch die Familienmitglieder begegneten sich hier teilweise zum ersten Mal.

20.8.2019